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Ernst Wiechert: Das einfache Leben

Ernst Wiechert: Das einfache Leben

 

Verlorenes Land, versunkene Zeit; so tief versunken, daß Günter Grass das Buch seinem Blechtrommler Oskar bereits in den 20er Jahren auf den Tisch legt – es erschien aber erst ein Jahrzehnt später, 1939, auf dem Höhepunkt der NS-Herrschaft. (Wikipedia ordnet den Roman sogar dem 1902 verstorbenen Ernst Wichert zu.) Drei Jahre vorher war Wiechert in seinem Erinnerungsbuch „Wälder und Menschen“ schon in seine Heimat Ostpreußen zurückgekehrt. „Zweite Heimat gibt’s nicht – gibt nur Heimat“.

Nun sind das Buch und sein Autor nicht so einfach in das Gut-Böse-Schema einzuordnen. Einerseits ist er 1933 nicht emigriert, seine Bücher mit unverkennbar nationalen Tönen erschienen in hohen Auflagen auch in der NS-Zeit. (In Christian Adams Bilanz „Lesen unter Hitler“ taucht Wiechert erstaunlicherweise gar nicht auf.) Andererseits kam Wiechert für zwei Monate ins KZ Buchenwald und wurde von Goebbels persönlich diszipliniert – unter Androhung der endgültigen Vernichtung.

Ein kleines Dilemma beginnt schon mit seinem Geburtsort. Der heißt Forsthaus Kleinort und liegt in Ostpreußen, was das DDR-Schriftstellerlexikon[1] noch korrekt vermerkt (während es etwa den in Rochlitz an der Iser geborenen Franz Fühmann in „Rokytnice [ČSR]“ 1922 zur Welt kommen läßt; das bundesdeutsche „Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“[2] entblödet sich allerdings auch nicht, ihn in „Rokytnice nad jizerow … Tschechien“ das Licht der Welt erblicken zu lassen. Sancta simplicitas! möchte man ausrufen, aber es ist eben keine simplicitas, sondern die perfide Methode der Umerziehung durch Geschichtsfälschung.)

Die repräsentative (DDR-) „Geschichte der deutschen Literatur“ geht immerhin auf den Roman ein, der im Register schelmisch „Das einfache Lachen“ genannt wird. Gelesen hat der Beitragautor das Buch nicht: „… führt der Held, ein ehemaliger Offizier, auf dem flachen Land ein genügsames, durchgeistigtes Leben, bis er einem Anschlag geistloser Brutalität erliegt.“[3] Das Buch aber endet so: „Ein paar Tropfen fielen und schlugen in das junge Laub der Eichen, aber er blieb noch sitzen, den Kopf an die harte, rissige Rinde gelehnt, und sah den Blitzen zu, die immer höher über die Wälder stiegen.“ Der da sitzt, ist der angeblich brutal Erschlagene. – Ermordet im Roman wird ein Adliger, letzter Sproß einer ermüdeten Familie, mit zwar geist-, aber nicht ideologieloser Brutalität von einem aufbegehrenden Landproletarier. Hier trifft sich Wiechert mit Hamsun, der in seinen Büchern ebenfalls den Untergang der einst herrschenden Geschlechter schildert, die nicht schuldlos daran sind – nur, was an die ihre Stelle treten will und wird, ist entwurzelte und heimatlose Masse.

Daß die genannte Literaturgeschichte die Landschaft des Geschehens durch den Allerweltsbegriff „flaches Land“ ersetzt, hat eindeutig ideologische Gründe: Ein deutsches Ostpreußen hatte es nie gegeben und nicht zu geben. „Flaches Land“ deutet ja wohl eher auf Rübenfelder in Brandenburg oder Niedersachsen – das Buch ist aber ohne Ostpreußen nicht denkbar und vor allem nicht erlebbar. Die Landschaft, die Wälder, Seen, Moore, die Jahreszeiten, die weit weit auseinanderliegenden Gehöfte bestimmen das Leben der Romanfiguren. Und sie halten den Roman. Denn es ist immer ein Risiko, nach Jahrzehnten ein Buch wieder zu lesen, das einen in der Jugend außerordentlich beeindruckt hat. Später hat man die „Jeromin-Kinder“ oder die „Missa sine nomine“ als ungenießbare Pilcher-Vorläufer aufgegeben. Würde „Das einfache Leben“ standhalten?

Der Held der Geschichte wird inmitten eines sinnlos geschäftigen Lebens von einem Bibelvers getroffen, der auf ihn gewartet hat: „Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.“ (Die „Bibel in heutigem Deutsch“ übersetzt das mit „Leben … so flüchtig wie ein Seufzer“ – das klingt, auch wenn es vermutlich „richtiger“ ist, wie Beethovens Neunte auf dem Kamm geblasen. In die „Bibel in gerechter Sprache“ wage ich gar nicht erst hineinzusehen.) „Wiecherts neuer Roman erzählt von der Kraft, die in einem einfachen Leben liegt und in der Rückkehr zu der Hände Arbeit. „Aus der Hoffnungslosigkeit der aufgewühlten Jahre nach der roten Revolte, aus dem sinnlosen Chaos einer nur auf eigenen Vorteil gestellten Zivilisation kehrt der Korvettenkapitän Thomas von Orla heim in ein von Wind und Wasser, Wald und Tieren umgrenztes, einfaches, arbeitsreiches Leben.“ So im Verlagstext auf dem Schutzumschlag. „Einfaches Leben“ – wer denkt da nicht an Hamsuns „Segen der Erde“? Und eben hier wird der große Unterschied (auch in der erzählerischen Qualität) deutlich: Hamsuns Isak ist ein einfacher, ja primitiver Bauer, ein Arbeitstier, jegliches Geistige oder gar Metaphysische geht ihm als Mensch – nicht als Romanfigur und Symbol – völlig ab. Korvettenkapitän von Orla ist kein Fischer, er arbeitet nur als Fischer. Daneben schreibt er feinsinnige Bücher über die Ethik des Seemannslebens, führt Gespräche mit feinsinnigen Adligen, preußischen Generälen, uralten weisen Fischern und einem aufblühenden, ebenfalls feinsinnigen Mädchen. Dem Ganzen haftet etwas Unechtes, Gespieltes an; und man denkt an Hamsuns, Faulkners und Tolstois (und Wiecherts) eher peinliche Versuche, ein solches einfaches Leben auf einem Bauernhofe zu praktizieren. Andersen Nexö hat in bezug auf Hamsun dessen „Hunger“ als keinen wirklichen, elementaren Hunger bezeichnet, keinen Hunger, wie ihn Proletarier und Landarbeiter leiden mußten. Nun, Hunger tut allen Menschen gleich weh, da kann man Andersen Nexö nicht beistimmen, und dennoch hat diese Bemerkung einen wahren Kern: Hamsun (als später erfolgreicher und vermögender Dichter) und Tolstoi und Orla haben immer eine Rückzugsmöglichkeit ins Wohlleben. Und so erinnert Orlas einfaches Leben doch immer an eine Fastenkur, der man sich nach übersättigtem Leben einmal im Jahr unterzieht.

Natürlich bietet das Buch beinahe demonstrativ eine Gegenwelt zur Wirklichkeit seiner zeitgenössischen Leser. Eine Welt ohne Aufmärsche, Appelle, Militärmusik. So hat man das seinerzeit auch gelesen und erkannt. Aber es ist eben – obwohl die Fischadler schreien und die Wälder rauschen – eine Kunstwelt. Oder eben deswegen.

Die Zeitereignisse greifen nur von fern und gelegentlich in die Idylle ein: bolschewistische Revolutionäre, polnische Nationalisten, deutsche Freikorps sorgen für Schatten und Blutflecke auf der ewigen Erde. Aber man spürt doch, wie die Einschläge näher kommen, und der Hauch von Untergang, dem diese Welt entgegengeht, weht aus dem Buche. Daß er so grauenvoll und endgültig sein wird wie dann tatsächlich sechs Jahre später, macht dem heutigen Leser das Buch denn doch bedeutungsvoller und prophetischer als es dem zeitgenössischen erschienen sein mag.

Peter Dimt erzählt in seinem Erinnerungsbuch an ein Jahr mit Erwin Guido Kolbenheyer eine ziemlich bösartige Anekdote (Kolbenheyer hat sich mehrfach unfreundlich und ungerecht über Wiechert geäußert, aber auch mitunter recht zutreffend). Finanzfragen mit dem Verlag Langen-Müller regelte stets Wiecherts Frau, der dort in einem Gespräch der verhängnisvolle Satz entglitt: „Wenn je auf einen Dichter, dann passe auf ihren Mann das Wort: ,Wer nie sein Brot mit Tränen aß …’“[4] Daraus sei Wiecherts heimlicher Spitzname Tränenaas entstanden. Das ist bös und bösartig und dennoch, horribile dictu, zutreffend. „Das einfache Leben“ ist bemüht tiefgründig, gefühlsgeschwängert und an vielen, sehr vielen Stellen einfach kitschig. Bei der erneuten Lektüre stellte sich das Schlimmste ein, was einem Buch und seinem Leser widerfahren kann: Langeweile. Und die nicht deshalb, daß man die Handlung ja kannte. Handlung ist im Grunde unwichtig. „Es gibt nichts Langweiligeres als das sogenannte Spannende“, bemerkte J. Wassermann (dessen Bücher dann allerdings mitunter auch sehr spannend sind), und so lesen wir keineswegs gelangweilt, wie ein mittelmäßiger Mann einen mittelmäßigen Tag, den Bloomsday, verbringt oder wie sich ein junger Herr in sieben Bänden beim Kuchenessen an die Vergangenheit erinnert. Personen und Ereignisse sind Klischees: das rehäugige junge Mädchen, der brave Matrose Bildermann, der im Zitzewitz-Ton knarrende General, der überzüchtete Letzte seines Adelsgeschlechts, der lebensfremde und herzensgute Lehrer – über diese Attribute hinaus haben sie keine weiteren Eigenschaften, und so weiß man immer, was sie sagen und tun werden. Das könnte ein Film im GEZ-Fernsehen à la Pilcher werden. Auch die Landschaft würde mitspielen.

Und dennoch ist dem Autor zu danken, für die Bewahrung der Landschaft und ihrer Stimmung, für die Ernsthaftigkeit seiner Bemühung und eines Satzes wegen: „Ein Volk müsse seine Toten bewahren, und es sei ein dunkles Zeichen ihrer Zeit gewesen, daß sie das nicht getan habe, ja daß sie die Toten geschmäht habe.“



[1] Albrecht, Günter u. a.: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1967.

[2] Kraft, Thomas (Hg.): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. München: Nymphenburger 2003. Bd 1, S. 379

[3] Kaufmann, Hans (Leiter des Autorenkollektivs): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag 1973. Bd 10, S. 507

[4] Dimt, Peter: Schlederloher Tagebuch. Berg/Starnberger See 3: Türmer-Verlag 1982. S. 346

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