Meine Homepage

Gustav Freytag: Soll und Haben

Gustav Freytag: Soll und Haben
 
„Die Stereotypisierung der Judenfigur hat diesem ,meistgelesenen Roman des 19. Jahrhunderts’ (Franz Mehring) einen nachhaltigen, unrühml. Einfluß auf die Prägung antisemitischer Vorurteile im Lesepublikum gesichert.“ – so die Bilanz Eda Sagarras im KILLY[1], die neben einer kurzen Inhaltsangabe noch auf die „Verherrlichung des aufstrebenden Bürgertums“ und die Ablösung der Adelsherrschaft verweist. Die (DDR-) „Geschichte der deutschen Literatur“ wirft dem Roman vor allem die Begrenzung auf das Handelsbürgertum vor und somit den Ausschluß der „Lohnarbeit des Proletariats in der Produktionssphäre“. Dergleichen Vorwürfe sind bis heute gängige Praxis: Autoren wird die fehlende Gestaltung von Bereichen vorgeworfen, die sie gar nicht gestalten wollten und innerhalb ihres Konzepts auch nicht gestalten konnten (Rolle der Arbeiterklasse und „ihrer Partei“, deutsche Kriegsverbrechen, Holocaust, Kriegsschuld usw.) Die Hauptfigur „mit dem sprechenden Namen Anton Wohlfahrt“ (so wird der Name durchgängig falsch geschrieben, wie übrigens auch in der „Deutschen Literaturgeschichte“ von Fritz Martini) kommt nun einmal nicht in die Fabriken, die in den 1850er Jahren auch noch keineswegs die Bedeutung hatten wie in den Gründerjahren des Deutschen Reiches. Die „antisemitischen Tendenzen“ werden nur en passant erwähnt, und das Streben des „jüdischen Klassenkameraden“ Veitel Itzig nach Reichtum und Macht wird erklärt dadurch, daß man auf „ihn, den verachteten Judenjungen, herabgesehen“[2] habe – also eine mehr psychologische Deutung, die das Judesein gewissermaßen in die zweite Reihe verweist. Heute wird der Roman durchgängig mit dem Verdikt des Antisemitismus belegt und als geistige Vorbereitung von Auschwitz gedeutet. Zu Recht?
Daß der charakterlich untadelige Freytag Judenverfolgung und -diskriminierung ablehnte ist aus expliziten Äußerungen zu diesem Problem eindeutig abzulesen. Hier stellt sich nun die grundlegende Lektürefrage: Ist ein Buch antisemitisch, wenn der böse Antiheld Jude ist? Zu fragen ist doch, ob er böse ist, weil er Jude ist oder weil er böse ist. Die zitierte DDR-Literaturgeschichte differenziert hier recht sorgfältig; Freytag verweist auf die Quälereien schon des kleinen Itzig in der Schule, vor denen Wohlfart ihn beschützte. Itzig bedient sich der Mittel des Selbstbehauptung, die ihm möglich sind in einer Gesellschaft, die den Juden zwar rechtlich gleichstellte, ihn in der Praxis aber denn doch oft ausgrenzte und diskriminierte. Er wird zum Schurken, weil er dazu gemacht worden ist. Allerdings bedient sich Freytag bei seiner Schilderung in der Tat antijüdischer Klischees, etwa in der Darstellung seines Äußeren (Bd I 41). Demgegenüber stehen etwa schöne junge Jüdinnen, positive jüdische Gestalten (Bernhard) und durchaus deutsche Schurken wie Hippus, der Itzig in die Schliche des Geldmarktes einweiht, gegen Bezahlung. Und dennoch empfindet er etwas für seinen gelehrsamen Schüler, denn „die Güte der menschlichen Natur ist unzerstörbar, und die größte Korruption eines Menschen vermag nicht alles in ihm zu verderben“ (I 137).
Dennoch wird der heutige Leser entschieden empfindlicher auf antisemitische oder antisemitisch deutbare Passagen und Personen im Roman reagieren als die zeitgenössischen Leser. Es gibt eben keine „richtige“ oder endgültige Lektüre, alle Urteile sind zeitbedingt, auch die heutigen, was nicht bedeutet, daß sie besser und richtiger sind als frühere. Es ist bemerkenswert, daß etwa Adolf Stern in seinem Freytag-Porträt[3] zwar die „Verherrlichung des Kaufmannsstandes“, die Kritik am Landadel, die Schilderung des Slawentums und die Biederkeit der einfachen Leute hervorhebt, auf die kritische Darstellung des Veitel Itzig aber mit keinem Wort eingeht – das Wort „Jude“ kommt in seiner Besprechung nicht vor. Offensichtlich empfand die zeitgenössische Leserschaft diesen Aspekt  als marginal.
In einer 1869 erschienenen Replik auf „die herausfordernde Schrift Wagners ,Das Judentum in der Musik’“[4] lehnt Freytag jeden Angriff auf das „jüdische Wesen“ in Deutschland ab und betont, daß „unsere Mitbürger israelitischen Glaubens“ nicht als minderwertig betrachtet werden sollten, „nicht in Politik, nicht in Gesellschaft, nicht in Wissenschaft und Kunst […]“. Sie seien „werte Bundesgenossen“. Wenn sie einst gefürchtete Spekulanten gewesen seien, so hätten sie diesen „Ruhm an Christen abtreten müssen“. Er betont ihren Patriotismus, hebt die Reihe großer Namen in Wissenschaft, Philosophie und Kunst hervor und erklärt als Hauptursache für Vorzüge und Schwächen der jüdischen Bürger ihre Sonderstellung und Diskriminierung. Jüdische Spitzfindigkeit sei eben nicht nur jüdisch, sondern habe auch in deutschen Klöstern eine Heimstatt gefunden. Und wenn das stimme, was Wagner den Juden in der Musik vorwerfe (z. B. Effekthascherei), dann sei Wagner der größte Jude. Das ist alles andere als antisemitisch und Freytag uneingeschränkt abzunehmen. Er trat dem 1890 gegründeten „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ bei und bekämpfte alle Judenfeindlichkeit offen.
Eine Gesellschaft macht die gleichen Leseerfahrungen wie der einzelne Leser, der ein Buch, das ihm in der Jugend viel bedeutete, im Alter wieder zur Hand nimmt. Seine Sicht hat sich verändert, seine Erfahrungen fließen in die Lektüre ein.
Unübertrefflich ist die Schilderung des Landadels, seiner Untätigkeit, seiner Unfähigkeit, seiner Überhebung und Arroganz, seines in jeder Beziehung parasitären Lebens. Eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Familie von Rotsattel, Landadel – aber ohne jede Kenntnis des Landlebens, völlig unwissend in der Leitung eines Gutes. Leichte Beute für Spekulanten und Betrüger. Das Familienoberhaupt „wurde Mitglied einer adeligen Ressource, suchte seine alte Meisterschaft auf dem Billard hervor, spielte mit Anstand Whist und L’hombre und trieb in müßigen Stunden etwas Politik und ein wenig Kunst“ (I 75). Die Baronin genießt unterdessen „die kleinen Nippes der Tagesliteratur“, Vorboten der bunten Blätter unserer Tage. Töchterchen flirtet, reitet, sucht aber noch. Der erste Versuch des Barons, aus Geldmangel Kontakt mit der Wirklichkeit zu suchen und eine Fabrik zu gründen, wird ein Desaster, und so häuft er Kredit auf Kredit, Hypothek auf Hypothek. Folgerichtig mißlingt nach der Katastrophe auch ein Selbstmordversuch – er schießt sich blind (bringt also nicht einmal einen anständigen Suizid  zustande), verstößt seine Freunde und Helfer und wirft sich seinen Vernichtern an die Brust. Das Bedauern des Lesers hält sich so in Grenzen. Blind für die Wirklichkeit war er schon vorher.
Was Thomas Mann schilderte, den Untergang der Buddenbrooks und den Aufstieg der Hagenströms und Kistenmakers, das ist hier schon vorgezeichnet: der bieder-korrekte Wohlfart und der wendige Kosmopolit Fink, der den Dollar als das Maß aller Dinge lobt. Zwar übersteht das Handelshaus dank selbstloser Arbeit alle Krisen, aber der Leser ahnt, daß weder patriarchalische Geschäftsführung noch altbürgerlicher Anstand den neuen Zeiten gewachsen ist. Mit dem Herzen solle man bei den Geschäften sein, meint Wohlfart und schwärmt sogar von der „Poesie des Geschäfts“ (I 388), aber am Ende zählt doch nur die Brieftasche darüber. Da hilft auch Finks reuiger Trinkspruch nicht: „Trinken Sie mit mir auf das Wohl eines deutschen Geschäfts, wo die Arbeit eine Freude ist, wo die Ehre eine Heimat hat; hoch unser Kontor und unser Prinzipal!“ (I 324) Ohne Bürgerstand gäbe es keine Kultur. Nur Arbeit mache frei. (Vgl. I 395)
Freytag versteht etwas von Geschäften, auch der Leser lernt so etwas dazu. Er hat aber auch schon einen Blick für die Naturzerstörung durch die Industrie (die Wilhelm Raabe dann später in „Pfisters Mühle“ zum Hauptthema macht). Park und Störche weichen der Fabrik
Das Proletariat spielt im Roman in der Tat keine Rolle. Die Arbeiter, die zum Aufbau der Fabrik gerufen werden, trampeln über die Blumenbeete der Baronin. („sie werden meine Lorbeerhaine zerstören und dort Kartoffeln anpflanzen“, befürchtete Heine einst im Vorwort zur „Lutetia“. Aber hier will der Landadel Schnaps und Zucker statt Blumen.) Die Packträger sind mit kaum ertragbarer Biederkeit gezeichnet (Sturm und Sohn), auch sie werden vom Sohn der verrotteten Adelsfamilie um ihr Erspartes gebracht.
In der Stadt ist deutlich Breslau zu erkennen, das slawische Element ist also immer gegenwärtig. Die Polen kommen nahezu durchgängig schlecht weg, das böse Wort von der „polnischen Wirtschaft“ (II 302) fällt.  Aber Fink etwa betont, daß er sich mit Polen im Ausland immer gut verstanden habe (II 180) und erlaubt sich eine fast multikulturelle Sentenz: „Etwas Unterschied in der Hautfarbe und anderen Zutaten, aber Liebe und Haß, Lachen und Weinen findet der Reisende allerwegen, und diese Dinge sehen überall ziemlich gleich aus.“ (II 180)
Am Ende wird alles gut, Wohlfart bekommt die Tochter des Prinzipals, und der Aufschwung ist da. Vorausgeahnt und in ihren Gefahren auch dargestellt wird die reine Finanzspekulation, der Handel mit Papieren statt mit Waren, der Erwerb durch Manipulation statt durch Arbeit. Soviel Ökonomie in einem Roman war selten. Und dennoch oder auch gerade deswegen:  Das Buch liest sich gut.
 

[1] Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Spache. Hrsg. Walther Killy. Gütersloh / München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1989. Bd 3, S. 527
[2] Geschichte der deutschen Literatur. Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1975. Bd 8.1, S. 514
[3] Stern, Adolf: Studien zur Literatur der Gegenwart. Dresden und Leipzig: Coch 1905. 3., verm. u. bearb. Aufl.. S. 40-70
[4] Freytag,, a. a. O. Erste Serie, Bd 8, 325-330

Diese Webseite wurde kostenlos mit Homepage-Baukasten.de erstellt. Willst du auch eine eigene Webseite?
Gratis anmelden